Import:Angelika

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Frau Heinke lächelte.

„So, und was haben wir heute gelernt, Klasse?“, fragte sie. Die Antwort schlug als eine Welle aus Lärm über ihr zusammen, als 22 10-jährige anfingen, wie wild durcheinander zu rufen. Die Lehrerin hob beschwichtigend die Hände und deutete auf ein Mädchen in der ersten Reihe.

„Angelika? Möchtest du es zusammenfassen?“

„Icons, bei denen wir uns nicht sicher sind, ob sie ungefährlich sind, sollen wir mit dem Analyse-Programm überprüfen.“, antwortete das angesprochene Mädchen in tiefer Konzentration.

„Sehr gut.“, sagte Frau Heinke. „Und was noch? Tim?“

„Icons, die das weisse Dreieck in der Übersicht haben, sind von der Sicherheit als unbedenklich eingestuft worden und wir müssen sie nicht nochmal überprüfen.“, sagte der Junge hörbar stolz.

„Wundervoll! Ihr habt eure Hausaufgaben also wirklich gemacht. Und...“ Die Lehrerin warf einen kurzen Blick auf die Uhr am Rande ihres Sichtfelds. „Da wir tatsächlich noch eine halbe Stunde übrig haben... spricht eigentlich nichts gegen eine Runde VR Brennball, oder?“

Zustimmendes, freudiges Gemurmel und hektisches Gewusel antwortete ihr, als die Klasse 4b der Grundschule ihre schulgerechten Cyberdecks, Trodenstirnreife und Glasfaserkabel aus ihren Taschen nestelte. Die kleine Angelika strich erwartungsvoll über das Display ihres brandneuen Erika KidsCom 2064. Sie hatte es erst wenige Tage vorher zum Geburtstag bekommen und brannte darauf herauszufinden, ob es ihr helfen würde endlich auch den schnellen Bällen ausweichen zu können, die das Spielsystem generierte.

Angelika schob sich den Stirnreif mit den eingearbeiteten Troden auf die Stirn und schaltete das Deck ein. Der vertraute Tunnel aus weissem Licht sog sie aus der materiellen Welt in das virtuelle System der Schule. Erfreut stellte Angelika fest, dass erst zwei andere Klassenkameraden vor ihr fertig eingeloggt waren. Ihr neues Deck startete also wirklich schneller. Für einen Moment schwebte sie im leeren Raum der Warteschlange, dann verschwamm das Umfeld und Frau Heinke schaltete die Klasse für das virtuelle Brennball Programm frei. Natürlich sah das Konstrukt des Programms nicht annähernd wie ein realer Sportplatz aus, aber dafür konnte man hier im Konstrukt meterweit oder -hoch springen und sich auf den Plattformen, die überall im Raum schwebten vor den Brennbällen verstecken, die das Programm in zufälliger Richtung durch den Raum sausen lies. Die langsamen Bälle waren kein Problem, aber die schnellen Bälle erwischten Angelika immer.

„Ab heute, nicht mehr!“, dachte sie sich, innerlich grinsend. Ein Signalton gab den Start des ersten Balls bekannt und die Kinder verteilten sich hüpfend wie eine Horde Flöhe im Raum. Angelika holte tief Luft und sprang. Im Klassenzimmer ertönte ihr helles Lachen, als ihr neues Deck ihre Bewegungen so schnell umsetzte, dass der Vermittlungsknoten der Schule kaum hinterher kam. Sie sprang wie eine Ballerina, rannte flink wie eine Gazelle und tanzte frech lachend um die Bälle herum.

Der doppelte Signalton erklang, das Zeichen für das Ende des Unterrichts in 5 Minuten. Angelika sah verwundert auf die projizierte Uhr an der virtuellen Wand. „10:25 Uhr – 2.11.2065“, las sie. Die Zeit war, im wahrsten Sinne des Wortes, wie im Flug vergangen.

„Na schön, Klasse!“, rief Frau Heinke. „Ihr habt den Gong gehört, loggt euch bitte sicher aus und räumt eure Sachen...“

Das Konstrukt erzitterte. Die Bälle blieben wie eingefroren schlagartig stehen. Die Lehrerin und die Kinder der Klasse sahen sich erschrocken um.

„Was war das?“ „Habt ihr das auch gespürt?“ „Ist das Programm abgestürzt?“, riefen die Kinder wie wild durcheinander.

„Keine Aufregung, das war sicher nur ein kleiner Bug im Programm, die Techniker werden das schnell reparieren.“, rief Frau Heinke. „Ihr loggt euch jetzt bitte alle SOFORT aus!“

Angelika konzentrierte sich auf ihren Körper und begann die Logout Sequenz. Plötzlich rief jemand hinter ihr erschrocken „VORSICHT!“

Angelika drehte sich um. Ihre Finger verharrten auf der Tastatur ihres Decks. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Wand des Konstrukts. Etwas fraß sich hindurch, wand sich wie ein fetter, schwarzer Wurm in die virtuelle Turnhalle. Das Konstrukt erbebte. Die schwebenden Plattformen zerbarsten in kleine Polygone. Der Wurm kroch mit unglaublicher Geschwindigkeit durch den Raum. Die Kinder stoben panisch auseinander, viele verschwanden einfach, loggten sich aus, indem sie sich die Troden von der Stirn rissen. Angelika schwebte wie versteinert vor Angst mitten im Konstrukt. Der Wurm wand sich vor ihren Augen, schlug Frau Heinkes Avatar beiläufig zur Seite. Dann riss das schwarze Ungetüm sein Maul auf und schnappte nach Angelika.

Das Klassenzimmer war erfüllt von Panik und Tumult. Doch alle Anwesenden verstummten schlagartig, als Angelika anfing zu kreischen.


Racoon schob sich langsam durch die Menge der Menschen, die die Münchner Einkaufszone der alten Innenstadt füllte. Sie schenkte ihrer Umgebung nur so viel Beachtung, wie nötig war, um niemanden allzu anzurempeln. Die zierliche Elfe zog in solchen Begegnungen eigentlich immer den Kürzeren. Ihr Ziel schlenderte völlig ahnungslos 20 Meter vor ihr an den Schaufenstern entlang. Mit einen kurzen Rundumblick versicherte sich Racoon, dass gerade keine Überwachungsdrohne in ihre Richtung schaute. Dann konzentrierte sie sich auf das Comlink ihres Ziels.

Das Gerät war so schlecht gesichert, dass sie beinahe laut gelacht hätte. Die Gedanken der Technomancerin tasteten sich kurz über die völlig veraltete Firewall des Comlinks und brannten sich dann durch einen Bug, der schon seit Monaten gepatched sein sollte.

„Das hast du davon, dass du deine Programme nicht aktuell hältst.“, murmelte Raccon grinsend. Dann wartete sie. Ihre Geduld wurde nicht auf die Probe gestellt, kaum 10 Minuten vergingen, als ihr Ziel einen Anruf tätigte. Racoon manövrierte sich mit einigen Gedanken an den Datenstrom des Gesprächs und hängte sich dazwischen. Die Daten flossen ungehindert durch sie hindurch. Sie wollte lauschen, nicht unterbrechen. „Alles erledigt. Hab die Idioten ohne Probleme überreden können, mich verhandeln zu lassen. Die Spacken haben nix geschnallt.“, hörte Racoon die Stimme ihrer Zielperson.

„Sehr gut.“, dröhnte die raue Stimme des zweiten Gesprächsteilnehmers. „Das dürfte sicherstellen, dass diese Aktion gehörig in die Hose geht. Und Schmid wird sich natürlich furchtbar freuen, dass ihm Mr. Wolf einen solchen Haufen Trottel als „Top Runner Oberbayerns“ vermittelt hat.“ Das raue Lachen hallte durch Racoon wie ein Sandsturm. Sie schüttelte sich unwillkürlich.

„Absolut. Wolf kann sich dann erstmal ein Loch suchen, in dem er sich verstecken kann. Schmid wird kotzen vor Wut, jede Wette. Ich melde mich, wenn alles gelaufen ist. Also, schiefgelaufen.“

Mit dem Ende des Gesprächs trennte Racoon die Verbindung zu dem Comlink. Sie hatte genug gehört (und aufgezeichnet). Fröhlich pfeifend packte sie eine Kopie der Tonaufzeichnung zusammen und versah sie mit einigen Notizen. Sie verließ die Einkaufszone an einer der zahlreichen Nebenstraßen. Schlagartig versiegte der träge Strom aus Menschen. Racoon duckte sich in einen Hauseingang und wechselte von AR vollends in die Matrix. Sofort erschien neben ihr ein kleiner Rabe. Racoon lächelte.

„Fette Beute! Hier, bring das zu Mr. Wolf, seine Privatnummer steht auf dem Paket.“, sagte sie und schob dem Sprite die Tonaufnahme zu. Der Rabe packte sich das kleine Datenpaket mit den Krallen seiner Füße und erhob sich flügelschlagend in die unechten Lüfte des Cyberspace. Racoon wechselte wieder zurück auf AR und beschloss, zur Feier des Tages shoppen zu gehen.

Auf dem Weg aus dem dritten Geschäft kehrte das Boten-Sprite zurück, eine Überweisung ihres Honorars im Gepäck.